Nachdem ich also die Schaufensterpuppen mit dem nötigen Hintergrundwissen beäugt und die erwerbswürdige Konfektionsware selbsttätig aus der Sommerfarben-
kollektion extrahiert habe, nähere ich mich dem, was man in der Unterhaltungsbranche "Endgegner" zu nennen pflegt. Der Dungeon, zu dem man zehn Anläufe braucht und in dem sogar die Besten kläglich scheitern: Die Umkleide!

Zwei Regeln sind zu beachten: 1. Nicht mehr als fünf Teile mitnehmen (als Zugeständnis an den Intellekt, weil Verkäuferinnen nur eine Hand zum Zählen haben, die andere hält den Knopf im Ohr fest) und 2. Schau nicht in den Spiegel! Nein, nie! Wirklich nicht! Auf gar keinen Fall. Schaust Du in den Spiegel, trifft Dich der alttestamentarische Fluch und Du erstarrst zur Salzsäule. Das Bild, dessen Anblick es UNBEDINGT zu vermeiden gilt, ist bei allen das gleiche: Die Haare sind strähnig und elektrisch von der Klimaanlage, deine alten Klamotten sind durchgeschwitzt, völlig ausgeleiert und hoffnungslos altmodisch. Ausziehen macht's nicht besser. Bei Neonbeleuchtung hat jede Frau Besenreiser, Bindegewebs-
risse, Falten, Ringe unter den Augen und einen fahlen Teint wie eine Leiche. Was? Oh Gott, hängt mein Hintern? Ich wusste gar nicht, dass ich von hinten so aussehe? Macht es noch Sinn, neue Sachen zu kaufen? Wieso hat mein Freund mich noch nicht verlassen? Grauenhaft. Umkleidekabinen werden im dritten Untergeschoss hinter mehreren Stahltüren von therapieresistenten Sadisten konstruiert, die schon als Kinder am liebsten Frösche aufgeblasen haben. Also, schaut nicht in den Spiegel!
Nähern wir uns also mit der gebotenen Vorsicht dem Fünf-Teile-Erwerbsstapel. Alles plötzlich hässlich und die Kleidergrößen haben sie offenbar seit der letzten Kaufaktion auch geändert. Nichts passt, ich seh darin aus wie ein Sack Schrauben. "Ha!", denkt Ihr Euch jetzt, "Elsa ist fett!" Nein, ist sie nicht, im Gegenteil. Elsa ist dünn und das ist das Problem. Es gibt keine passenden Klamotten für Schaufensterpuppen und folglich auch nicht für schau-
fensterpuppenförmige Frauen. Jetzt ist höchste Diskretion gefragt, da ich nebenan schon die eine oder andere Naht reißen gehört habe. Flüsternd trage ich der Konsumberaterin meinen Wunsch nach einer kleineren Größe an. Sie - Knopf im Ohr, mitleidiger Blick - nötigt mir die Nummer eines Ernährungsberaters auf und verweist mich in die Kinderabteilung. Alles war vergeblich. Ich bin am Ende meiner Kraft.

Derart gedemütigt, unverstanden und ungeliebt, schleppe ich mich gramgebeugt wieder nach Hause und beschließe, zum Islam zu konvertieren. So ein Tschador ist eine tolle Sache und ein schwarzes Zelt passt doch jedem, oder? Und auf der Straße sehe ich sie wieder: Die Frau, die genau die Sachen anhat, die ich gesucht habe. Und ihr passen sie wie angegossen. Und sie ist dünn, Schweinerei! Warum haben alle schöne Sachen, nur ich nicht? Wo ist dieses eine Geschäft, in dem es die Klamotten gibt, in denen man gut aussieht? Auch ich möchte ein einmal im Leben diese heiligen Hallen betreten dürfen, jedoch scheine ich nicht auserwählt. Zuhause guck ich in den Spiegel und sehe plötzlich wieder gut aus. Das verstehe, wer will.
 
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